Eindrücke zu Marco Thiemanns Bilderreihen

Das wütende Auge und die Sprache der Erkenntnis

von Viola Alvarez

Nicht jeder, der Bilder anfertigt, ist ein Maler.
Was den Maler als Künstler ausmacht, ist eine Qualität, die er nicht lernen kann, auf keiner Hochschule und in keinem Abendkurs.
Selbst die besten Lehrer können sie nie an diejenigen vermitteln, die sie nicht schon haben:
Es ist die Fähigkeit, zuerst ein Auge zu sein.
Ein Auge, das sieht, und dann eine Hand, die das Gesehene in eine eigene wortlose Sprache zu übersetzen vermag. Jeder Künstler muss durch dieses Auge, durch diese Hand die Sprache der Welt um sich herum überwinden, manchmal zerstören, und neu dann erschaffen – hoffentlich auf unverwechselbare Art.
Er spricht in diesem Fall sozusagen seinen eigenen Dialekt der Wahrnehmungsverengung, zeigt uns einen Ausschnitt aus dem per se Unverständlichen, der Welt in seinem eigenen Kopf und Herzen.
Marco Thiemann hat diese besondere, diese unerlernbare Fähigkeit der eigenen Sprache.
Er hat die Fähigkeit, zu sehen, zu warten und zu verwandeln.
Aber was für ein Auge, was für eine Hand hat Marco Thiemann?
Der Betrachter kann es bei all seinen Bilderserien deutlich spüren:
Es ist in den frühen Bildern nurmehr ein wütendes Auge, von dem aus ein kreativer Blitz in eine wütende Hand fährt.
Wütend auf den Menschen in seiner Urdisposition der Unentschlossenheit, der Schwäche und der Eitelkeit, wütend auf sich selbst als Teil dieser ethischen Amorphia. Die Formen und Farben spucken Gift und Galle, sie wüten als eingefrorenes Ereignis vor sich hin und schreien den Betrachter an, hinzusehen. Hier und da tauchen auch unglaublich poetische Versprechen von Sinnlichkeit und Genuss auf, von Zartheit und Innigkeit, die aber diesem originären, unerbittlichen Zorn noch ganz untergeordnet bleiben müssen.
Dann, langsam, mählich, weicht der Zorn, überwindet Marco Thiemann die Selbstgerechtigkeit dieses scheinbar absoluten Gefühls und führt uns auf seinen ganz eigenen Weg der Erkenntnis.
Das Auge verliert nichts von seiner Schärfe, aber es erlaubt sich und dem Leben einen größeren Radius des Verstehens und eröffnet unvermittelt einen fast sorglosen Reichtum der konstruktiven Wahrnehmung.
In den jüngeren Werken darf der Mensch nun endlich unvollkommen sein, er soll es sogar bleiben und er darf sich in dieser Fehlerhaftigkeit freudig, bisweilen humorvoll zeigen.
Das wütende Auge ist fast ( zeitweilig?) geschlossen, das verstehende hat sich fast ganz geöffnet.
Diese Chrysalis als bestimmendes Element eines künstlerischen Reifeprozesses führt den Dialog mit dem Betrachter in der gleichen, unverwechselbaren Sprache wie die Wut, aber sie hat die Absolutheit und rechtschaffene Rechthaberei hinter sich gelassen.
Marco Thiemanns besondere Gabe als Maler liegt in seiner unprätentiösen Fähigkeit, durch Betrachtung des anderen zuletzt auch sich selbst zu kommunizieren.
Somit eine Zwiesprache zu erschaffen, in der Rede des Künstlers und Gegenrede des Betrachters sich umeinander winden und wieder freilassen können wie in einem Tanz.
Seine Malerei ist Rhythmik und Melodie zugleich, das Medium transzendiert sich selbst, es erreicht – erschaffen im Unerklärbaren des Künstlers – nicht zuletzt das Unerklärbare in uns, die Welt in unseren Köpfen.
Seine Bilder berühren, weil sie ihn berührt haben, weil sie von Menschlichkeit an sich berührt worden sind.
Wer immer eine eigene Sprache erschafft, muss schließlich auch etwas darin zu sagen haben.
Marco Thiemann hat etwas zu sagen. Jeder, der seine Bilder ansieht, kann es hören.


März 2005

Viola Alvarez, freie Autorin und Seminarleiterin